Kulturhauptstadt 2025: Der verweigerte Glanz
Metamorphose mit Marx. | Illustration: © Paul Blotzki
Chemnitz testet Europas Nerven
Schönheit, auch im weitesten Sinn verstanden, und der Titel einer Europäischen Kulturhauptstadt müssen nicht zusammenpassen. Wer den Titel Kulturhauptstadt nach einem Auswahlverfahren von der Europäischen Union erhält, der muss ein Programm aufgestellt haben, bei dem es weniger um den schönen Schein geht, sondern um Stadtentwicklung für die Zukunft mit Mitteln der Kultur. Entwicklungsdefizite sollen ausgeglichen werden.
Nürnberg hat sich 2020 um den Titel beworben und hatte in einem nicht ganz durchsichtigen Vergabeverfahren, was die Funktionen der Entscheidungsträger anbelangte, gegenüber Chemnitz den Kürzeren gezogen. Das war angesichts der Nürnberger Möglichkeiten und der Herausforderungen durch das ehemalige Reichsparteitagsgelände sehr ärgerlich.
Die fränkische Metropole zeigt sich aber als guter Verlierer, das geht auch nicht anders. Es sei der von den Geschichtsläufen gebeutelten Stadt in Sachsen gegönnt. Wiedervereinigung heißt, teilen zu lernen. Auch wenn es sehr schwerfällt.
Esse des ehemaligen Heizkraftwerk Chemnitz Nord. Die bunte Bemalung ist das Kunstwerk des französischen Künstlers Daniel Buren. | Foto: © Ernesto Uhlmann
Nach 40 Jahren und 35 Jahre nach der Wiedervereinigung geht es wieder einmal auf Entdeckungstour in die sächsische Industriemetropole, die viele Einwohner und Arbeitsplätze verloren hat. Von einstmals 360.000 Einwohnern leben noch rund 250.000 Menschen im ehemaligen Karl-Marx-Stadt, so der Name der Stadt in der DDR.
Schon bei der Fahrt durch die Vororte in die Stadtmitte, stellt sich das Problem, dass viel Positives seit 1990 passiert ist, aber muss es gerade der Titel „Europäische Kulturhauptstadt“ sein? Die kleinen Fähnchen mit dem Motto „C the unseen“ (Sieh das Ungesehene) sind zwar falsch, wie so viele Motti, denn das Ungesehene kann man nicht sehen. Aber wir machen uns auf die Suche, etwas zu finden.
Das Motto der Kulturhauptstadt “C the unseen”. Die abmontierten Fahrkartenautomaten beweisen: Es funktioniert. | Foto: © André Fischer
Gar nicht so leicht. In Chemnitz braucht man ein Fahrrad oder ÖPNV, sonst bekommen die Schuhsohlen angesichts der Entfernungen Löcher. Beim Öffentlichen Personennahverkehr stellte sich gleich das Problem, dass zunächst kein Automat zu finden war.
„Höh, höh“, schallte es auf Nachfrage von zufällig anwesenden Chemnitzern zurück. „Die da oben haben alle Automaten abmontiert. Jetzt finden Sie mal einen“, lautete der Ratschlag einer älteren Frau mit mokantem Lächeln. Hilfreich war der Rat nicht. Andere sagten gar nichts. Die aufgedruckten Informationen des nächsten Automaten waren für fremde Nutzer völlig unverständlich. Ausführlich waren allerdings etliche sächsische Bahnbetreiber erwähnt, die offenkundig zuständig sind.
Wie eine Fahrkarte zu erwerben sei, ließ sich nicht herausfinden (wie früher in Nürnberg). Wir haben kein Diplom für die Details des ÖPNV-Jargons. Zum Glück konnte eine Frau am Fahrkartenschalter der Bahn weiterhelfen. Noch dazu mit einem Lächeln und der Zuversicht, dass es den DB-Fahrkartenschalter hoffentlich noch länger gibt. Kann man nur zustimmen. Viel Glück. Endlich kann es losgehen.
Prachtvolle Fassadendetails: Der Kaßberg beherbergt eines der weltweit größten Jugendstilviertel. | Foto: © André Fischer
Mit der Straßenbahn zur Villa Esche auf dem Kapellenberg. Leider nur sehr schlecht vor Ort ausgeschildert. Der Alleskünstler Henry van der Velde hat 1902/1903 dieses Jugendstilschmuckstück, verspielt und doch geradlinig, für die Fabrikantenfamilie Esche geplant und gebaut. Frisch renoviert, ein besonders qualitätsvolles Beispiel des belgischen Designers und Architekten van der Velde. Viele Originalmöbelstücke und bauliche Details, die nur für die Villa Esche konzipiert wurden, sind noch zu sehen. In Sachsen und Thüringen gibt es etliche sehenswerte Gebäude von van der Velde.
Der angrenzende Kaßberg gilt als eines der größten noch erhaltenen Jugendstilstadtteile. Viele Industrielle, die zu Geld gekommen sind, zeigten ihren Wohlstand in Chemnitz mit einer Villa. Etliche sind noch erhalten. Es ist in der Regel kein kitschiger Jugendstil. Klare Formen wechseln sich mit einer differenzierten Farbgebung ab.
Die Erkundung macht Spaß, aber nur mit dem Fahrrad. In 60 Minuten, wie es im Programm heißt, dem „Kaßberg zu Fuß zu erleben“, ist nicht möglich. Entweder, es muss gejoggt werden oder die endlich gefundenen Häuser werden nicht angeschaut. Wäre schade drum.
Kaßberg-Gefängnis: Drei Diktaturen unter einem Dach
Noch dazu gibt es auf dem Kaßberg den Lern- und Gedenkort Kaßberg-Gefängnis zu entdecken. Die Programmmacher schreiben etwas verniedlichend, dass „dieser einstige Abwicklungsort des Häftlingsfreikaufs aufseiten des ostdeutschen Regimes“ ein „heute wichtiger Erinnerungsort an DDR-Unrecht und die deutsche Teilung“ ist. Nicht nur das ist er: Die SS hat die Gebäude als Gefängnis für ihre Quälereien von Andersdenkenden errichtet, wiederum der russische Geheimdienst hat nach 1945 in den Kaßbergbau ideologische Abweichler (auch wenn es nur behauptete waren) gesteckt und anschließend das Anwesen an die Staatssicherheit der DDR übergeben. Deutsche Nachhaltigkeit.
Bis zum Ende der DDR war das Gebäude im Dienst eines Unterdrückungsmechanismus. Mitten in einem sehr guten Wohnviertel. Da sind fast alle Brüche der deutschen Geschichte enthalten. Die historische Aufarbeitung am Beispiel von zerstörten Schicksalen durch unterschiedliche historische Systeme ist sehr gut. Warum wird das so zaghaft gezeigt? Vielleicht ist das ein Ungesehenes?
Dass die Menschen auf dem Kaßberg 90 Jahre in direkter Nähe zu dem Gefängnis leben mussten, wäre eine Studie wert. So wird Angst bei Andersdenkenden mit unterschiedlichen politischen Systemen erzeugt.
Garagenhof in der Hainstraße. Auch ein Tor zum Ungesehenen? | Foto: © André Fischer
Kunst wandert vierhundert Kilometer
Während der Start ins Chemnitzer Kulturhauptstadtjahr 2025 mit großer Geste gefeiert wurde, blieb es danach vier Monate eher flau. Kleinere Aktivitäten beherrschten das Programm. Zuletzt wurde ein 400 Kilometer langer Kunst-Skulpturen-Pfad gestartet.
Im Mai wird das Programm wieder Fahrt aufnehmen. Garagenparcours mit 3000 Garagen werden zusammen mit ihren Besitzern Geschichten erzählen. Ein offizieller Helfer antwortete auf die Frage, wo es solche Garagen gibt: „Fragen sie halt, vielleicht sperrt jemand auf.“
Ähnlich unkonkret waren drei Mitarbeiter des Kulturhauptstadt-Programms bei den Informationen zur Realismus-Ausstellung „European Realities“ im neu eröffneten Museum Gunzenhauser. Drei unterschiedliche Antworten mit falschen Daten gab es zur Eröffnung. Dreimal mit dem Hinweis verbunden: „Ich bin nicht verantwortlich. Ich weiß nichts.“
Das beliebteste Fotomotiv in Chemnitz: das Karl-Marx-Monument des Künstlers Lew Kerbe. | Foto: © André Fischer
Der Kopf, der die Stadt nicht loslässt
Alles nett und freundlich, aber die Flucht vor der Verantwortung auch in kleinen Bereichen fällt auf. Ein bescheidener Handwerker brachte es ungefragt auf die Formel: „Die Oberen machen, was sie wollen. Wir können nichts machen.“ Das sind Schuldzuschreibungen, die einer rechtsextremen Partei in die Karten spielen, weil sie „die da oben“ mit plumpen Unterstellungen madig machen. Schuld ist das System, nicht der Einzelne. Von Öffnungszeiten über Wärmepumpen bis hin zu Fahrkarten.
Demokratien leben aber von der Selbstverantwortung des Einzelnen und nicht von Einflüsterern oder furchtbaren Vereinfachern.
Verwunderlich ist, dass der die Innenstadt dominierende Kopf von Karl-Marx, der von 1971 bis in die neunziger Jahre Namenspatron und Namensgeber für Chemnitz war, nicht nur optisch, sondern auch programmatisch noch im Mittelpunkt steht. Selbst wenn der Kopf das am meisten fotografierte Motiv von Chemnitz ist, und er sich keine Gewalttaten vorhalten lassen muss, so überrascht es doch, wenn selbst die Eröffnung zur Kulturhauptstadt im Zeichen von Marx, dem Erfinder des Kommunismus erfolgte.
Kopfkissen mit Marx-Kopf und anderes Spielzeug mit Marx ist nicht immer lustig. Unter den Zielen von Sozialismus und Kommunismus haben zu viele Menschen leiden müssen. Die Innenstadt von Chemnitz ist ein Beispiel, wie der Plan, eine sozialistische Stadt aufzubauen, scheitert. Es sind doch keine Marx-Festspiele.
Nicht Teil des Glanzes: Tunnel unter dem Chemnitzer Hauptbahnhof. | Foto: © André Fischer
Kulturhunger in Chemnitz
Chemnitz lässt sich zusammen mit dem Land Sachsen und Sponsoren die Kulturhauptstadt viel kosten. 160 Projekten und 1000 Veranstaltungen sowie einige Infrastrukturmaßnahmen werden rund 100 Millionen Euro zur Verfügung gestellt. Zusätzlich stehen noch 35 Millionen Euro für das Vorhaben „Stadt am Fluss“ zur Verfügung.
Zweifellos gibt es in Chemnitz noch viel zu entdecken. Sehenswert der Stadtpark mit seinem ungekünstelten Konzept, das von Erich Mendelssohn geplante ehemalige Kaufhaus Schocken, das eine attraktive archäologische Ausstellung bekommen hat und wieder belebt wurde und das Siegert’sche Haus. Im Sommer stehen dann das 3000Garagenfestival an. Hoffentlich ohne „Die nach oben Zeiger“.
Kultur hat etwas mit Essen zu tun. Das haben die Wessis über 30 Jahre auch erst lernen müssen und eine gute Küche in Chemnitz zu finden, ist nicht ganz einfach.
Hilferuf eines Kulturhauptstadt-Touristen: „Wir haben zweimal im Ratsk…. gegessen. Wir können nicht mehr. Haben Sie keine Empfehlung?“ Ja, aber außerhalb der Innenstadt. Das Alexxanders (hervorragender Weinkeller!), das Schalom (eine der ganz wenigen koscheren Gaststätten in Deutschland) und die Remise der Villa Esche mit Panoramablick. Alles Gute.
Chemnitz hat den Titel „Europäische Kulturhauptstadt“ nötiger gebraucht als Nürnberg.
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